MYTHOS EUROPA – KLÄNGE EUROPAS
Europas Geist wurzelt in der Antike und der Name unseres Kontinents wird seit dem Altertum mit der mythologischen Gestalt der Europa in Verbindung gebracht. Als phönizische Königstochter lebte sie der Sage nach an der Mittelmeerküste des heutigen Libanons. Göttervater Zeus verliebte sich in die schöne Frau und entführte sie als Stier verwandelt nach Kreta. Dort angelangt, bekamen Zeus und Europa drei Kinder, darunter Minos, der fortan Herrscher der Insel sein sollte, während seine Mutter Namensgeberin für den gesamten Erdteil wurde. Zu den wichtigsten Ideen, die im Zusammenhang mit dem »Mythos Europa« in die Welt transportiert wurden, gehört gewiss die der Demokratie. Doch im Rahmen einer kulturellen europäischen Identität spielten die Künste und in diesem Kontext besonders die Musik seit dem ausgehenden Mittelalter eine zentrale Rolle. Unter dem Titel »Mythos Europa – Klänge Europas« lenkt das Festival seit 2021 daher jährlich den musikalischen Blick in ein Nachbarland. Nach Belgien und den Niederlanden steht dieses Jahr Italien im Mittelpunkt.
Italien ist nicht erst seit Goethes »Italienischer Reise« das Sehnsuchtsland der Deutschen schlechthin. Ähnlich wie Deutschland wurde es erst in den 1870er-Jahren zum Nationalstaat. Ab dem 14. Jahrhundert waren es vor allem fünf Mächte, die auf dem Gebiet des heutigen Italien herrschten: die Stadtstaaten Mailand, Florenz und Venedig sowie der Kirchenstaat und das Königreich Neapel. Oft noch angereichert durch Konflikte mit äußeren Mächten, bildete sich in dieser Konkurrenzsituation an der Wende von der Spätrenaissance zum Barock eine einzigartige Hochkultur heraus – so auch in der Musik! Mit dem humanistischen Gedankengut als geistigem Nährboden entwickelte sich ein grundlegend neues Musikverständnis, verbunden mit der Entstehung zahlreicher neuer musikalischer Gattungen und Formen. Spätestens als sich die Musik aus dem kirchlichen Rahmen hinaus in die Weltlichkeit der Oper löste und auch die Höfe als musikalische Zentren hervortraten, war der Siegeszug italienischer Komponisten nicht mehr aufzuhalten. Nachdem 1501 Ottaviano Petrucci in Venedig den modernen Notendruck erfunden hatte, trug dies maßgeblich dazu bei, ihre Werke schnell in ganz Europa zu verbreiten. Venedig, Rom und Neapel als führende Zentren übten mit ihrer Musikkultur eine so starke Anziehungskraft aus, dass es für viele junge Komponisten nördlich der Alpen der größte Wunsch war, nach Italien zu gehen. Heinrich Schütz, Georg Friedrich Händel, Johann Adolph Hasse, Christoph Willibald Gluck und Wolfgang Amadeus Mozart sind nur die berühmtesten Beispiele. Umgekehrt wurden zahlreiche italienische Komponisten mit lukrativen Anstellungen ins Ausland gelockt. Luigi Boccherini und Domenico Scarlatti gingen nach Madrid, Giovanni Maria Bononcini und Nicola Antonio Porpora nach London, Antonio Vivaldi und Antonio Caldara nach Wien und Baldassare Galuppi sowie Domenico Cimarosa verschlug es einige Jahre an den Hof Katharinas der Großen nach Sankt Petersburg. Die sprach- und grenzübergreifende Kraft der Musik war zu dieser Zeit in ganz Europa schon längst gelebte Wirklichkeit!
Von Monteverdi bis Verdi, vom Madrigal bis zur Oper, vom Concerto bis zur Vesper – vom Spannungsfeld dieser engen Verflechtungen sind zahlreiche Programme im diesjährigen Musikfest bestimmt. Und natürlich wendet sich der Blick auch wieder aktuellen Repräsentanten des italienischen Musiklebens zu.
Der römische Oboist Alfredo Bernardini leitet erneut das Atelier »Katharinas Hofmusik«, zu dessen Dozent*innen-Team auch Alessandro Quarta, Leiter des Concerto Romano, gehört, und gestaltet daneben mit seinem Ensemble Zefiro eine Mozart gewidmete »Serenata teatrale«.
Der aus Treviso stammende Organist, Cembalist und Dirigent Andrea Marcon ist in einer dreiteiligen Residenz zu erleben: Als Solist spürt er an der Orgel in Hohenkirchen den italienischen Einflüssen auf die Norddeutsche Orgelschule nach, mit dem La Cetra Barockorchester Basel macht er in Rhede eine »Musica veneziana« wieder lebendig und rekonstruiert in Ganderkesee eine Vesper, wie sie im Markusdom erklungen sein könnte. Der aus Pavia stammende Organist Edoardo Bellotti zeichnet in Osterholz-Scharmbeck die Einflüsse nach, denen Händel in Italien wichtige Impulse verdankte. Il Giardino Armonico, gegründet 1985 und geleitet von Giovanni Antonini, ist seit Jahren eines der führenden italienischen Originalklang-Ensembles. In Verden fügen sie ihrer langjährigen Auseinandersetzung mit Joseph Haydn dessen Oratorium »Die Jahreszeiten« hinzu.